Multipolarität unideologisch
Multipolarität ist ein politikwissenschaftlicher Fachbegriff. Inzwischen ist es auch ein politischer Kampfbegriff. Wie es nicht anders sein kann, wird die ursprüngliche fachliche Bedeutung des Begriffs natürlich verbogen, verzerrt und verfälscht, wenn er als politischer Kampfbegriff verwendet wird. Ich möchte hier klarstellen, was die fachliche Bedeutung des Begriffs Multipolarität ist und was auf dieser Grundlage seine politische Bedeutung ist.
Auch wenn es noch so deutsch ist: erstmal Begriffsklärung
Der Begriff Mulitpolarität bzw. Polarität beschreibt zu einem gegebenen Zeitpunkt den Zustand des Systems von souveränen Nationalstaaten. Er setzt wiederum ein ganz bestimmtes Verständnis der Dynamik dieses inter-nationalen (= zwischen-staatlichen) Systems voraus, und zwar, dass souveräne Nationalstaaten Macht und Einfluss über andere Nationalstaaten maximieren wollen, so wie Unternehmen im Markt Profit maximieren wollen.
Die Theorie im Hintergrund
Das ist die politikwissenschaftliche Theorie des "Realismus" oder "Neorealismus"). Die andere Seite dieser Medaille ist, dass die interne Verfassung eines Nationalstaates, also ob er z.B. demokratisch oder diktatorisch, kapitalistisch oder kommunistisch ist, überhaupt nichts mit seiner Außen- und Sicherheitspolitik zu tun hat. Ich mache mir hier weder diese Theorie zu eigen, noch widerspreche ich ihr. Ich stelle nur dar, was die Kernaussagen der Theorie, insbesondere mit Bezug auf Polarität, sind und inwiefern sie logisch so zusammenhängen, dass man sich nicht einfach die einen Versatzstücke zu eigen machen kann und andere nicht.
Auf dieser Grundlage teilt die Polarität des internationalen Systems die Welt ein in die Staaten, die viel mehr Macht haben, als andere, und den Rest, oder, wie man gerne sagt, in Großmächte, Mittelmächte und kleine Mächte. Es wird unterstellt, dass die Großmächte die Großmächte sind, weil sie allen anderen, außer anderen Großmächten, jederzeit ihren Willen aufzwingen können, durch wirtschaftlichen Druck oder durch die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt.
Die nächste Ableitung aus der Theorie des Neorealismus ist, dass Großmächte Imperien oder Hegemonien um sich herum errichten, die Feinheiten können wir hier beiseite lassen (siehe auch Hegemonietheorie). So entstehen Zonen bzw. Regionen, in denen sich die Länder, die selbst keine Großmächte sind, einer Großmacht anschließen oder von der jeweiligen Großmacht zu loyalem Verhalten gezwungen werden.
"Polarität" ist Empirie zur Theorie
Die Polarität des internationalen Systems beschreibt also die objektive Verteilung von Macht zwischen Staaten und sagt nichts darüber aus, ob der aktuelle, historische oder zukünftige Zustand der Welt in dieser Hinsicht wünschenswert ist oder nicht. Man kann sich darüber ärgern, dass China die Macht hat, die China hat, aber man kann es nicht ändern. Man kann sich darüber ärgern, dass kein anderes Land soviel Macht hat, wie die USA, aber man kann es nicht ändern. Unipolarität, Bipolarität oder Multipolarität sind keine politischen Programme.
Die Polarität des internationalen Systems ist auch kein Zustand, den ein einzelnes Land herstellen kann oder jedenfalls nicht kurzfristig. Solange nationale Macht etwas mit Wirtschaftsleistung zu tun hat, gibt es gewisse natürliche Grenzen. Egal wie sehr sich, sagen wir, die Schweiz wünschen mag (hypothetisch), eine globale Großmacht zu sein oder zu werden, es wird der Schweiz nicht gelingen, die USA oder China zu überflügeln. Sicher hat China über 40 Jahre eine Politik betrieben, um seine Wirtschaftsleistung zu verbessern und auf der Grundlage auch seine militärische Macht erhöht und ist damit zu einer Großmacht geworden, die es vorher nicht war. Trotzdem hat China nicht einfach willkürlich eine neue Polarität des internationalen Systems hergestellt.
Das internationale System kann also hinsichtlich der Polarität vier Zustände haben, in denen der Wettbewerb der Großmächte um Macht, Einfluss, Imperien und Hegemonie stattfindet:
1. Unipolar: nur eine Großmacht.
2. Bipolar: nur zwei Großmächte.
3. Multipolar: mehr als zwei Großmächte.
4. Apolar: gar keine Großmächte.
Die Folgen von Multipolarität
Multipolarität (Machtkonkurrenz unter drei oder mehr Großmächten) ist nicht dasselbe wie Apolarität (die Abwesenheit von Machtkonkurrenz unter Großmächten). Das gilt insbesondere in einer Welt von rd. 200 Nationalstaaten, die sehr unterschiedliche wirtschaftliche und militärische Macht haben.
Wenn Unipolarität die globale Hegemonie einer einzelnen Großmacht ist, dann ist Bipolarität (wie im Kalten Krieg USA vs. UdSSR) die Hegemonie von zwei Großmächten, jeweils in "ihrer" Hälfte des Globus bzw. in "ihrem" Teil des Globus (im letzteren Fall gibt es offenbar Teile der Welt, für die sich die Großmächte nicht interessieren und in denen sie nicht konkurrieren).
Multipolarität bedeutet, dass es drei oder mehr Großmächte gibt, jeweils mit ihren hegemonialen Herrschaftszonen, die untereinander um Macht und Einfluss konkurrieren, insbesondere in Weltgegenden, die nicht in ihre jeweils eigene hegemoniale Zone integriert sind. Manche tun so, als ob die Bipolarität des kalten Krieges dasselbe gewesen sei, wie globale Stabilität. War es nicht. Europa war rd. 2 Jahrzehnte nach 1945 einigermaßen stabil (nach der Niederschlagung von Volksaufständen hinter dem eisernen Vorhang, nach den Konfrontationen in Berlin und dem Mauerbau, nach der Kuba-Krise), in Afrika z.B. fochten USA und UdSSR mehr oder weniger hemmungslos um Stellvertreter, Alliierte und Einfluss.
Multipolarität bedeutet nicht, dass Großmächte den Ehrgeiz im Machtwettbewerb verloren haben oder dass Großmächte kooperationsbereiter oder friedlicher wären. Im Gegenteil, es gibt mehr Gelegenheit für Wettbewerb und Konflikt.
Selbst bei Unipolarität oder Bipolarität gab es kleinere Länder, die für die Großmächte zu uninteressant waren und die deshalb relativ ungestört blieben, solange sie kein Problem für die eine oder andere Großmacht wurden. Dasselbe gilt bei Multipolarität. Andererseits gab es immer Länder, die geschickt die eine Großmacht gegen die andere zum eigenen Vorteil (bspw. Wirtschaftshilfe oder Waffenlieferungen) ausspielten. Dafür kann es bei Multipolarität mehr Gelegenheit geben dort, wo die hegemonialen Zonen der Großmächte aufeinander treffen und wo sie versuchen, sich Einfluss zu kaufen oder wenn sie bereit sind, Pufferstaaten zu akzeptieren.
Ein Übergang von Unipolarität zu Bipolarität oder Multipolarität bedeutet nicht notwendigerweise weniger Hegemonie für die der Hegemonie Unterworfenen. Es bedeutet unter Umständen nur einen Austausch des Hegemons.
Im Übergang von Unipolarität zu Multipolarität sind die neuen Großmächte die Gewinner, die neue "Pole" sind und nun ihren Willen anderen Staaten aufzwingen können, wo sie das zuvor nicht konnten, und denen nun andere Großmächte ihren Willen nicht mehr aufzwingen können.
Ist Multipolarität "gut"?
Multipolarität an sich erhöht die Stabilität in der internationalen Politik nicht, sie verringert sie, ganz einfach, weil Multipolarität mehr Situationen und Gelegenheiten für Konflikte schafft an mehr Orten der Welt mit mehr beteiligten Parteien mit der zusätzlichen Möglichkeit, dass sich Allianzen unter Großmächten gegen andere Großmächte bilden, so wie es in Europa vor dem 1. Weltkrieg war. Wie käme man zu nuklearer Rüstungskontrolle zwischen drei Großmächten mit ungefähr gleich vielen atomaren Sprengköpfen, wenn das Risiko besteht, dass sich zwei gegen den Dritten verbünden? Da ist es ein schwacher Trost, dass es das eine oder andere Land gibt, das einen opportunistischen, idiosynkratischen Vorteil davon hat, sich einem neuen Hegemon anzuschließen, anstelle des alten.
Eine Erwartung, dass angeblich "böse" Unipolarität (aufgrund eines angeblich "bösen" Hegemons, den USA) mit "guter" Multipolarität (aufgrund eines "guten" neuen Hegemons, wie China, Russland, Indien oder Brasilien - sind wir uns sicher, dass die alle "gut" sind?) ersetzt wird, hat nichts mit Polarität, Unipolarität oder Multipolarität an sich zu tun und widerspricht dem ganzen Gedankengebäude des Neorealismus, aufgrunddessen die Polarität des internationalen Systems überhaupt erst relevant ist. Wenn es "gute" (was wäre das, kapitalistisch, kommunistisch, demokratisch, diktatorisch?) und "böse" Staaten gäbe, wäre die Welt ja vollkommen in Ordnung, wenn sie unipolar mit einem einzigen "guten" Hegemon wäre. Wären alle oder die Mehrheit der neuen Großmächte in einer multipolaren Welt "böse", wäre Multipolarität kein Fortschritt.
Was alles nichts daran ändert, dass eine Evolution des internationalen Systems weg von Unipolarität und hin zu Bi- oder Multipolarität, wenn sie denn kommt, nicht zu verhindern und etwas ist, woran man sich nur anpassen kann.
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